seiten.verkehrt – Interview mit Influencerin Mirja Siegl zum Weltfrauentag 2023

Zwischen Retraditionalisierung und Marathonlauf bei der Gleichberechtigung – Ein Interview mit Mirja Siegl von seiten.verkehrt zum Weltfrauentag 2023

Mirja Siegl dreht auf Instagram Klischees um und sorgt dafür, dass Menschen manche Stereotype hinterfragen. Ihrem Instagramaccount  @seiten.verkehrt folgen mehr als 85.000 Menschen. Die Influencerin, Sinnfluencerin und Augenöffnerin hat der SPD-Fraktion anlässlich des Weltfrauentages ein Interview gegeben.

Mirja, du drehst typische Geschlechterklischees auf deinem Instagramkanal um. Aus dem Muttertag machst du den Damentag, „Eine tolle Gelegenheit für alle Frauen, sich mal richtig zu betrinken, während sie oben ohne mit dem Bollerwagen durch die Gegend ziehen, gröhlen und andere Menschen belästigen.“ Reagieren Männer anders als Frauen auf diese Postings?

In der Regel schon. Nun kann man davon ausgehen, dass die Männer, die mir folgen, grundsätzlich offen für diese Form der Satire sind. Sobald ein Posting allerdings die Bubble verlässt, ist die Empörung und der Widerstand oft groß – speziell unter Männern. Frauen haben da weniger Probleme mit und machen den Spaß eher mit.

Wenn Du an die Anfänge von Seiten.verkehrt zurückdenkst, hattest du diese Bandbreite an Klischees und Vorurteilen gegenüber den Geschlechtern die du bei Instagram aufdeckst schon im Kopf oder hat sich dein Blick dafür erst entwickelt?

 Das kam erst später. Ich hatte anfangs nur eine kleine Sammlung parat, aber je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, Bücher las und Austausch mit anderen Aktivist*innen führte, desto länger wurde meine Liste. Und dann kamen irgendwann ja noch die Einsendungen dazu, die nochmal eine zusätzliche Tür öffneten. Dass das Thema eigentlich unendlich wird, hätte ich damals nicht gedacht.

Bist du als Feministin geboren worden?

Nein. Meine Mutter war zwar alleinerziehend und dadurch gab es in meiner Kindheit weniger klassische Rollenverteilung, aber trotzdem hat die patriarchale Sozialisierung auch an mir Spuren hinterlassen. Ich würde schon sagen, dass ich recht früh viele feministische Ansätze im Kopf hatte, aber richtig Klick gemacht hat es erst später.

Deinen Account gibt es jetzt seit etwa 4 Jahren. Siehst du eine Verbesserung der Situation für Frauen in dieser Zeit?

 Ich würde so gerne laut und deutlich „JA!!!“ rufen, aber ehrlich gesagt: Nein. Ich glaube, wir sind gerade in dieser schmerzlichen Phase, in der uns vieles erst einmal bewusst wird, bevor sich hoffentlich etwas ändert. Zumal es auch gegenläufige Entwicklungen feststellen lassen: Retraditionalisierung sehe ich an vielen Ecken. Bei manchen habe ich den Eindruck, sie geben den Kampf auf (was ich ehrlich gesagt irgendwo nachvollziehen kann). Ich setze viel Hoffnung in die nächste Generation und tu einfach, soviel ich kann.

Gibt es nach deiner Erfahrung Branchen oder Bereiche, in denen Frauen es trotz aller Aufklärung und Arbeit besonders schwer haben, sich gegen Klischees zur Wehr zu setzen?

Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Das Handwerk und das Gesundheitssystem. In Wirklichkeit sind es wahrscheinlich noch deutlich mehr.

Welchen Einfluss hat deine Aufklärungsarbeit bei Instagram auf dein Leben?

Ich bin in manchen Bereichen deutlich resilienter geworden, dafür in anderen viel schneller bereit zur Diskussion als früher – weil ich jetzt viele Argumente und einiges an Wissen habe, das mir früher fehlte und mich sprachlos machte. Und ich will mehr: Mittlerweile habe ich meinen alten Job in der Werbung aufgegeben und arbeite in einer Frauenberatungsstelle. Für mich ist das kein Hobby mehr, sondern eine Berufung.

Dir Folgen mehr als 85.000 Menschen auf Instagram, viele von ihnen berichten dir und deiner Community regelmäßig von ihren Erlebnissen. Davon, dass sie als Frau benachteiligt oder nicht ernst genommen würden, dass sie ihren Job verloren hätten wegen ihrer Kinder, dass sie weniger Wert seien als Männer, dass es normal für sie sei, sexuell belästigt werden. Was macht das mit dir? Was macht das mit deiner Arbeit für seiten.verkehrt?

Es gibt Themen, die mich durchaus mehr belasten als andere, aber ganz grundsätzlich habe ich mir eine sehr gesunde Barriere aufgebaut, die mich diese Erfahrungen mit Distanz lesen und filtern lässt. Das bedeutet nicht, dass ich nicht mitfühlen würde oder wütend werde (ganz im Gegenteil), aber ich schaffe es mittlerweile ganz gut, so etwas nicht zu nah an mich heranzulassen. Davon profitiert der Kanal natürlich enorm: Von teilweise tausenden Einsendungen, die ich alle lese, kann ich eine halbwegs verträgliche Anzahl heraussuchen und exemplarisch veröffentlichen, die ein gutes Gesamtbild ergeben. Das ist enorm zeitintensiv und anstrengend, aber psychisch für mich persönlich auszuhalten. Das ist etwas, das ich durch Seiten.verkehrt gelernt habe. Ich bin enorm belastbar geworden – zumindest in der Hinsicht.

Was empfiehlst du Menschen, die mehr auf ihre Sprache und ihren Umgang mit Vorurteilen achten wollen?

Man hat es selbst in der Hand, was man konsumiert. Um bei den sozialen Medien zu bleiben: Abonniert Kanäle, die sich mit solchen Themen beschäftigen, lest, was sie zu sagen haben, reflektiert die Inhalte und widersteht dem ersten Impuls zu relativieren und Ausreden zu finden. Ich würde behaupten, dann kommt der Rest ganz von selbst.

Wenn du in die Zukunft schauen könntest, wie sieht es dann in fünf Jahren am Weltfrauentag aus? Sind wir in der Frage der Gleichberechtigung weitergekommen?

Zu hoffen wäre es natürlich, aber ich würde keine allzu großen Schritte erwarten. Kleine Schritte führen aber auch zum Ziel und wir laufen hier keinen Sprint, sondern einen Marathon. Wir dürfen also auch kleine Erfolge feiern und sollten das Ziel nicht aus den Augen verlieren.

 

Mirja Siegl ist 41 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie im Norden Deutschlands. Sie arbeitet im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in einer Frauenberatungsstelle. Den Instagram-Account Seiten.verkehrt führt sie seit dem Jahr 2019. Derzeit hat sie mehr als 85.000 Follower*innen, vorwiegend Frauen. Sie liebt Pizza und Pfefferminzeis und hat eine Abneigung gegen Kapern. Wir danken Mirja Siegl für den Einblick in ihre Instagramwelt zum Weltfrauentag 2023.

[jlz]